Cover
Titel
Sachsen 1923. Das linksrepublikanische Projekt – eine vertane Chance für die Weimarer Demokratie?


Autor(en)
Pohl, Karl Heinrich
Erschienen
Göttingen 2022: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
307 S.
Preis
€ 45,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sebastian Elsbach, Lehrstuhl für Politische Theorie und Ideengeschichte, Friedrich-Schiller-Universität Jena

Zum hundertjährigen Jubiläum des „Krisenjahres“ 1923 erschienen erwartungsgemäß zahlreiche Publikationen, die sich mit den politischen und wirtschaftlichen Herausforderungen der frühen Weimarer Republik befassen. Neben dem Hitler-Putsch, der Hyperinflation und dem Ruhrkampf drohte ein Thema in den Hintergrund zu geraten, welchem Karl Heinrich Pohl eine fundierte und fokussierte Darstellung widmet: der Reichsexekution gegen Sachsen. Mit seinen bisherigen Forschungsbeiträgen in den Bereichen der Weimarer Bildungspolitik, der sächsischen Landesgeschichte und insbesondere seiner Biographie zu Gustav Stresemann (DVP) ist Pohl bestens für die Aufgabe gerüstet. Das Buch stellt jedoch keine bloße Chronologie des Streites zwischen der sächsischen Landesregierung unter Erich Zeigner (SPD) und der Reichsregierung unter Stresemann dar. Pohl fragt explizit nach verpassten Chancen und Leistungen der sächsischen Regierungsarbeit, wobei der untertitelgebende Begriff des „linksrepublikanischen Projektes“ bereits in mehreren Arbeiten meist sächsischer Regionalhistoriker und -historikerinnen Verwendung fand.

Dieses Projekt zielte auf umfassende soziale und wirtschaftliche Reformen im linkssozialistischen Sinne ab, die – dem Selbstverständnis nach – dem Rahmen der Weimarer Reichsverfassung entsprachen, aber enorme Widerstände in bürgerlichen Kreisen auslösten. Sächsische Arbeitgeber-, Kirchen- und Reichswehrvertreter sahen im „linksrepublikanischen Projekt“ eine Bedrohung ihrer gesellschaftlichen Machtstellung, woraus sich ihre Feindschaft zur roten Landesregierung ergab. Das Projekt zielte zusätzlich auf eine Einbindung der KPD in die Landespolitik ab. Zeigner war, wie bereits sein Vorgänger Wilhelm Buck (SPD), im Landtag von der KPD toleriert worden, bevor sich im Herbst 1923 eine offene Koalition zwischen der SPD und der KPD auf Landesebene bildete. Dieses politische Experiment wurde im benachbarten Thüringen ebenfalls gewagt und die Landesregierungen wurden am 29. Oktober (Sachsen) und 6. November 1923 (Thüringen) per Reichsexekution abgesetzt. Pohl zeichnet in thematischen Kapiteln die Hintergründe der frühen Weimarer Republik, speziell im „Krisenjahr 1923“, die Entwicklung der lokalen Arbeiterbewegung, Konflikte mit und um die Reichswehr sowie ausgewählte Reformleistungen der sächsischen Landesregierung nach.

Pohl bietet eine Synthesearbeit zur detailliert erforschten Geschichte der sächsischen Arbeiterbewegung, die seit der Kaiserzeit weiter links stand als im Reichsdurchschnitt, aber kann auch direkten Einblick in ausgewählte Quellen bieten. Pohl gelingt es, die Entwicklung der Arbeiterbewegung in Sachsen, das komplexe Verhältnis zwischen Gemäßigten und Radikalen beziehungsweise „Alt“ und „Jung“ sowie die Reaktionen der sächsischen Industriellenverbände (VDI) darzulegen. Der lange Vorlauf der Reichsexekution steht somit im Vordergrund und nicht der eigentliche militärische Ablauf des Ereignisses an sich. Hierzu existieren ohnehin bereits mehrere Darstellungen, sodass Pohls Fokus auf die Leistungen des „linksrepublikanischen Projektes“ den eigentlichen Mehr- und Neuerungswert der Arbeit bildet.

Das Fragezeichen im Untertitel hätte dabei auch gestrichen werden können. Es wird bereits in der Einleitung klar formuliert, dass das Projekt eine „vertane Chance“ für die Weimarer Republik war (S. 10). Die Reichsexekution – der „Sachsenschlag“ – wird unzweideutig verurteilt. So entschieden wie Pohl diese These zu Beginn und am Schluss der Arbeit vertritt, so sehr laviert er aber im eigentlichen Verlauf des Buches. Diese rahmende Zuspitzung ist an sich nicht verkehrt. Es könnte jedoch leicht der Eindruck entstehen, dass Pohl eine einseitige Apologie der Zeigner-Regierung verfasst hat. Dieser Eindruck kann beim Lesen nicht bestätigt werden. Pohl lässt die Gegenseite und insbesondere Stresemann beziehungsweise den VDI ausführlich zu Wort kommen, verschweigt den Verbalradikalismus der KPD sowie linksradikale Gewaltakte keineswegs und charakterisiert Zeigner als insgesamt undiplomatischen und stellenweise ungeschickt agierenden Politiker. Auch die Zwangslage der Reichsregierung wird berücksichtigt, die parallel zum Streit mit Sachsen in einen wesentlich gefährlicheren Streit mit Bayern verwickelt war. Ganz zu schweigen von der Vielzahl an weiteren Problemen im „Krisenjahr“ 1923. Warum der Streit mit Sachsen in einer Reichsexekution mündete, kann die Leserschaft in der fundierten wie zuverlässigen Darstellung Pohls erfahren. Die Deutung des Geschehens muss jedoch nicht übernommen werden. Zumal Pohl eine recht akrobatische Argumentationsweise pflegt, die aus der Festlegung auf das Deutungsnarrativ der „vertanen Chance“ erwächst.

Der Wunsch der KPD an einer direkten Regierungsbeteiligung in Sachsen entsprang einer Weisung Moskaus, der zufolge die neue Machtposition zur Akquirierung von Waffen genutzt werden sollte, um einen Aufstand vorzubereiten (S. 91). Die Koalition mit der SPD stellte insofern für die KPD eine Vorstufe des Aufstandes dar und keineswegs den Ausdruck einer ehrlichen Verpflichtung auf die Reichsverfassung. Eine „Chance“ für die Demokratie entstand laut Pohl aber aus dem Umstand, dass die SPD innerhalb der Landesregierung den Zugriff auf die wichtigsten Machtpositionen (Regierungskanzlei und Innenministerium) wahren und damit zusammenhängend auch die polizeilichen Waffenbestände unter Kontrolle halten konnte. Von Sachsen ging in diesem Sinne keine unmittelbare Gefahr für das Reich aus. Dies mag rückblickend betrachtet überzeugen, doch stellte die KPD als Gesamtpartei zweifellos eine Bedrohung für die Sicherheit im Reich dar, wie allein der Thälmann-Aufstand in Hamburg vom 23. auf den 24. Oktober 1923 zeigte. Basierte dennoch die Reichsexekution gegen Sachsen wirklich nur auf einem „bloßen Vorwand“, wie Pohl behauptet? (S. 111)

Sicherlich verfolgte die Reichsregierung mit der Reichsexekution auch andere Ziele als nur die Bekämpfung des „linksrepublikanischen Projektes“. Insbesondere wurde das rechtsregierte Bayern mit dem Schlag gegen Sachsen gewissermaßen besänftigt. Denn die Gefahr einer bewaffneten Konfrontation entlang der thüringisch-bayerischen Grenze war in diesen Tagen sehr real und es wäre vermessen zu behaupten, dass die Reichsregierung gegenüber einem solchen Bürgerkriegsszenario hätte passiv bleiben können. Wie Pohl selbst beschreibt, waren die militärischen Vorbereitungen der sächsischen Landesregierung sehr begrenzt und dies gerade im Vergleich zu Bayern mit der dortigen rechtsmilitanten Szene. Sachsen war in diesem Sinne schlichtweg der leichtere Gegner für die Reichsregierung, die eine Reichsexekution gegen Bayern schon länger erwogen, aber als militärisch unmöglich verworfen hatte. Im Effekt verhinderte die Reichsexekution gegen Sachsen damit weitere Bürgerkriegskämpfe, die vermutlich wesentlich blutiger gewesen wären, als der Reichswehreinmarsch im relativ wehrlosen Sachsen. Die Kritik Pohls am einseitigen Vorgehen des Reiches ist somit berechtigt, aber es entsteht der Eindruck, als ob es gangbare Handlungsalternativen der Reichsregierung gegeben hätte, die Pohl aber weder benennt noch ausführt. Oder will er behaupten, dass es Chancen für eine Einbeziehung der KPD auf Reichsebene gegeben hätte? Stattdessen schildert Pohl im Schlusskapitel die emotionale Abwehrreaktion der Arbeiterschaft gegen die „Besatzer“ der Reichswehr (S. 278), deren Einsatz als übermäßig brutal beschrieben wird, was im Kontext der frühen Weimarer Republik so nicht zutrifft. Verglichen mit den Reichswehreinsätzen von 1919, 1920 und 1921 war die Reichsexekution von 1923 ein gemäßigtes Unternehmen, zumindest der Intention der Reichsregierung nach.

Ausführlich schildert Pohl in gesonderten Kapiteln die Reformversuche der Landesregierung auf den Feldern der Schulpolitik, Polizei- und Gemeindeverfassung sowie der Gewerbeaufsicht. Diese Bemühungen waren tatsächlich zukunftsweisend, in dem Sinne, dass an sie nach dem Zweiten Weltkrieg wieder angeknüpft werden konnte, aber in der Weimarer Republik hatten sie noch keine nachhaltigen Effekte, da die Reformen von Zeigners bürgerlichen Nachfolgern wieder zurückgedreht wurden. Von einer „vertanen Chance“ zu sprechen ist insofern fragwürdig, als selbige Reformen nur unter gänzlich anderen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen hätten Erfolge zeitigen können. Für linkssozialistische Experimente war in der Weimarer Republik politisch wie wirtschaftlich kein Platz. Dies zeigt Pohls Untersuchung deutlich. Sein Ansatz, die Zähmung der KPD als mögliches Erfolgsmodell, als „dritten Weg“ (S. 11) zu verkaufen, krankt an demselben Problem wie im Falle der Debatte um eine Zähmung der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP). Eine Regierungsbeteiligung bot jenen Kräften, die die Verfassung ablehnten und aktiv bekämpften, über kurz oder lang Zugang zu Machtressourcen und stärkte innerhalb der jeweiligen Parteien die radikalen Kräfte (Thälmann beziehungsweise Hugenberg), anstatt selbige zu besänftigen. Stabilität konnten solche Modelle angesichts der prekären wirtschaftlichen Lage nicht stiften. Stattdessen repräsentierten sie den Rückzug in die politischen Milieus und sorgten für eine Spaltung der politischen Mitte, was wiederum die Zerstörung der parlamentarischen Demokratie begünstigte. „Lupenreine Demokraten“ waren die Repräsentanten des „linksrepublikanischen Projektes“ denn auch nicht, wie Pohl an verschiedenen Stellen einräumt, nur um dann am Schluss zu schreiben, dass man sich ihrer „nicht schämen“ müsse (S. 288). Mindestens die teils begeisterte Partizipation von Führungsfiguren der sächsischen Sozialdemokratie in der SBZ beziehungsweise der stalinistischen DDR, die Pohl leider unerwähnt lässt, sollte aber durchaus Grund für Schamgefühle sein.

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